Herr Gleditsch
Von Thomas Perlick
Es war einmal ein Dorf irgendwo in Sachsen, das hieß Gleditsch, oder so ähnlich. Immer wieder verließen dort Menschen ihr Dorf und zogen woandershin, und als es die Zeit war, wo man einen Familiennamen brauchte, der aufgeschrieben werden sollte, da nannten sich manche von ihnen einfach Gleditsch, oder so ähnlich, nach dem Dorf aus dem sie stammten.
Einer ihrer Nachkommen hieß Johann Gottlieb, der wanderte als junger Mann gerne durch Thüringens Wälder und schaute sich die Bäume an. Schon mit 32 Jahren wurde er Professor für Anatomie und Botanik, und außerdem Direktor des Botanischen Gartens Berlin, den viele von euch wohl kennen. Und weil damals in Deutschland die Wälder schwanden und eine große Holznot drohte, forschte und lehrte Johann Gottlieb viel darüber, wie man Bäume, also Holz, in künstlichen Plantagen vermehren und wachsen lassen kann, egal welche Art, Hauptsache viel und schnell. Daraus wurde dann der deutsche Forst, den wir gelernt haben Wald zu nennen, und nun zeigt uns die Natur, wie unnatürlich und armselig Forste sind, und legt uns nahe, wieder reichhaltigere und gesündere Wälder entstehen zu lassen. Zu seiner Zeit jedoch war das mit dem Forst die Rettung vor der Holznot, und das hat diesen Professor ziemlich berühmt gemacht. Mit Nachnamen hieß er also Gleditsch, genau so. Geboren im Jahre 1714.
Im Botanischen Garten Berlin stand damals (und noch bis 1930!) eine weibliche „Butterdattelpalme“, die so ganz allein natürlich keine Datteln hervorbringen konnte. Im Leipziger Botanischen Garten allerdings gab es eine männliche Palme derselben Art, und das wusste der pfiffige Gleditsch. Im Frühling 1749 ließ er von dort einen blühenden Zweig nach Berlin bringen und bestäubte damit seine Datteldame. Wenige Monate später trug sie erstmals reichlich Frucht. Da staunte die zweifelnde Fachwelt. Man war damals noch nicht so aufgeklärt, ob das bei den Blütenpflanzen wirklich auch so sei … doch dieses Experimentum berolinense war nun ein Beweis.
Um Herrn Gleditsch und seine Leistungen zu ehren, wurde eine ganze Gattung von Bäumen nach ihm benannt, deren einzelne Arten in Nordamerika und vor allem in Asien ihre Heimat haben. Nicht in Europa. Gattungsnamen in der Wissenschaft, die müssen lateinisch geschrieben werden, und da gibt es kein sächsisches „tsch“, da heißt es also Gleditsia.
Vor etwa drei Jahrhunderten wurde die Amerikanische Gleditschie nach Europa gebracht. Hier ziert sie unsere Parks und dient als Straßenbaum. Ja, und wie sie dient: schluckt die vielen Abgase, die wir in unsere Stadtluft pusten, bekommt immer wieder das Salz in ihre Wurzeln, das bei Winterglätte gestreut wird, und hält das alles tapfer aus, dazu auch sommerliche Hitze und große Trockenheit. Ein genialer Baum also für die moderne Großstadt.
Aus der entgegengesetzten Richtung, aus dem fernen Asien, gelangte ein fremder Käfer nach Deutschland, niemand weiß wie. Er wurde vor fünf Jahren zuerst im Raum Mannheim entdeckt, dann auch in Berlin, und breitet sich schnell weiter aus. In seiner Heimat legt er seine Eier in die Samenhülsen mancher Bäume, darin fressen sich die Larven groß. Hier bei uns nun schmecken ihm Gleditschien-Samenkerne, die mag er sehr, die sind sein neues Glück. Daher heißt er jetzt „Asiatischer Gleditschien-Samenkäfer“. Wenn er das geahnt hätte, der gute alte Gleditsch.
Da bleibt dann noch die Sache mit dem Namen. Eiche, Buche, Fichte – das sind „echte“ Namen, die sind im langen Lauf der Sprache entstanden, gewachsen wie ein jahrtausendealter Baum. Aber nun „Gleditschie“? Das klingt doch ausgedacht. Eine Gle-, eine was? Was soll das sein? Als Baumname hat es gar nichts mehr mit diesem Dorf zu tun, das vielleicht zuerst ein slawisches war, gled – der Blick, ein Dorf mit schöner Aussicht, nun längst verschwunden und vergessen. Deshalb mochte mancher schon den Namen neu erfinden, einen sprechenden Namen finden, bei dem sich jeder etwas vorstellen kann: „Lederhülsenbaum“, wegen der langen, braunen, unregelmäßig verdrehten Schoten, die fühlen sich ledrig an, und machen einen großen Teil der Schönheit dieses Baumes aus, wenn sie den ganzen Winter noch an den kahlen Zweigen hängen; oder „Honigdorn“, wegen der süßen, duftenden Blüten und der kräftigen Dornen, die beginnen oft in Dreiergruppen zu wachsen (daher der Artname tri-acanthos) und können sich dann noch weiter verzweigen.
Wenn jemand sich am langen, pieksigen Dorn eines Straßenbaumes schlimm verletzt, kann er die Stadtverwaltung auf Schmerzensgeld verklagen. Deshalb hat man Gleditschien ohne Dornen gezüchtet. Wie praktisch! Doch gerade seine gefährlichen Dornenbüschel tragen zum fremdartigen Reiz dieses Baumes bei, sehr sogar.
Gleditschien haben ihren eigenen Humor. „Versuch uns einzuordnen in ein schlichtes Raster, wir spielen da nicht mit.“ – Sind eure Blätter einfach gefiedert oder doppelt gefiedert? – Mal so mal so, manchmal auch beides gemischt in einunddemselben Blatt! – Sind eure Blüten eingeschlechtlich, also entweder nur männlich oder nur weiblich, oder sind sie zwittrig, also beides in einer Blüte zusammen? – Mal so mal so, beides, also dreierlei verschiedene Blüten, wie wir wollen! – Stehen eure Dornen einzeln, oder immer in Büscheln? – Na, weißt du die Antwort, junger Leser?
Übrigens, die weißen Siedler in Amerika wussten sich in Notzeiten aus den Samenkernen dieser Bäume, die sie damals noch nicht Gleditschie nannten, einen Kaffee-Ersatz zu rösten, und aus dem Fruchtbrei in den Schoten, der süßlich schmeckt und genießbar ist, ein bierartiges Getränk zu brauen. Die ganzen Schoten ließen sich als Viehfutter verwenden, und aus den getrockneten Kernen wurden manchmal schöne Perlenketten gefertigt.
Wir haben auch eine Gleditschstraße in Berlin. Dort stehen als Straßenbäume – naja, insgesamt schon drei frisch gepflanzte junge Gleditschien. Ansonsten Platanen, Bergahorne und Linden. Das ist ein bisschen wie eine Kastanienallee ohne Kastanien, finde ich. Doch wenn ihr mal bei der Waldorfschule Kreuzberg seid, dort ist die Ritterstraße voll mit großen Lederhülsenbäumen, gegenüber der Schule einreihig, nach Westen hin auf beiden Seiten.
Wo unsere Schul-Gleditschie steht, werdet ihr auf dem Foto leicht erkennen. Schaut sie euch nur bald an. Wenn dort erstmal gebaut wird, könnte es sein, dass sie uns verlassen muss.