Welchen Götterbaum?
Von Thomas Perlick
Manchmal kommt ja ein neues Kind in die Klasse. Aus einer anderen Stadt vielleicht, wenn die ganze Familie nach Berlin gezogen ist. Manche solche Neuen bleiben lange schüchtern und finden nicht gut Freunde. Manche gehören schnell dazu und fallen nicht weiter auf. Und manche – sind gleich laut, drängeln sich vor und ärgern andere. Kennt ihr das? So etwas gibt es auch bei den Bäumen. Solch einen starken Drängler-Baum haben wir in unserem Land. In unserer Stadt. Auf unserem Schulgelände. Es ist eine Esche. Aus China. Eine Bitteresche. Wobei das reine Höflichkeit ist, diesen Baum Bitter-Esche zu nennen. Gemeint ist nämlich sein Gestank. Aber „Stinke-Esche“ wäre einfach unhöflich, das möchte man nicht sagen. Diese Bitteresche kam im Jahre 1780 nach Berlin.
Meistens wird die chinesische Bitteresche „Götterbaum“ genannt. Weil sie so hoch wachsen kann. Weil man, wenn man dicht an ihrem Stamm steht und nach oben schaut, leicht den Eindruck haben kann, er reiche bis hinauf zum Himmel, zu den Göttern eben.
Der Götterbaum wächst sehr sehr schnell. Er ist der schnellste Baum in ganz Europa. Schafft manchmal gleich im ersten Jahr schon zwei Meter Höhe! Er sondert aus Blatt und Wurzel Giftstoffe aus, mit denen er andere Pflanzen ausbremst, so dass sie kümmern oder sogar eingehen, und so schafft er sich Platz. Er wehrt sich gegen fast alle blätterfressenden Insekten und holzfressenden Pilze. Er braucht wenig Wasser, verträgt viel Hitze, stört sich nicht an schlechter Stadtluft, nicht an Abgasen aus Autos und Fabriken, und überlebt sogar manche Pflanzengifte. Ihm genügt zum Wachsen ein Spalt zwischen Steinen, ein Schutthaufen, eine kahle Ecke irgendwo zwischen Gebäuden oder Ruinen. Das ist eben seine große, große Stärke: unsere Städte begrünen und verschönern, wie aus dem Nichts heraus. Auch unserer Gesundheit kann er helfen, als Medizin, bei Schwächezuständen oder bei Scharlach.
Und das ist, was wir nicht mögen an ihm: Schon nach drei Monaten hat er in der Erde eine dickliche Wurzel, aus der er immer wieder nachwachsen kann. Ziehst du dann an ihm, bricht oft nur der oberirdische Teil ab, und bald kommt er von unten wieder neu heraus. Auch ein größerer Götterbaum, egal wie oft du ihn absägst oder ‑hackst, wächst immer wieder nach. Manchmal sogar dann, wenn du seine Hauptwurzel mit ausgegraben hast! Man wird ihn einfach gar nicht wieder los. Und er verbreitet sich schnell, mit hunderttausend Samen. Wenn man nicht aufpasst, gibt es bald überall fast nur noch Götterbäume.
Ich finde den Götterbaum sehr schön. Und nicht nur ich. Seine Rinde hat helle Muster aus kleinen Rissen, längs mit dem Stamm, unverwechselbar. Seine Blätter können einen Meter lang werden und erinnern an südliche Palmenblätter. Sie haben einen langen Mittelstiel, daran sitzen die einzelnen Blättchen. Aber das Ganze ist ein Blatt. Es wächst aus einer einzigen Knospe heraus. Und im Herbst fällt das alles ab, mitsamt dem Mittelstiel. Man könnte auch sagen: die Blätter des Götterbaums sind Wegwerf-Zweige. Sagt man aber nicht. Weil es doch Blätter sind, nicht Zweige.
Nun zu den Blättchen: schaut euch doch mal eins genauer an. Vielleicht bei dem Nachwuchs am grünen Hang vor den Lehrerzimmerfenstern. Oder bei den Fahrradständern am Haupteingang. Am unteren Ende der Blättchen sind so kleine, abgerundete Spitzen. Dort, und zwar auf der Unterseite, sitzen die Stinkdrüsen. Riecht mal dran. Zerreibt mal solch ein Blättchen! Genau daran erkennt man den Götterbaum, und unterscheidet ihn leicht von allen ähnlichen Bäumen. Also: wenn ihr irgendwo ein verzweigtes Blatt seht mit Stinkedrüsen unten an den Blättchen, dann wisst ihr jetzt: „Das ist ein Götterbaum. Den kenne ich.“
Und jetzt zur Frage: „Welchen Götterbaum … sollen wir wachsen lassen?“ – Antwort: Von den Kleinen keinen. Keinen einzigen. Alle herausziehen, oder wenigstens abbrechen, wo immer ihr einen seht auf dem Schulgelände. Wirklich. Das ist ernst gemeint. Je früher, desto besser!
Und die großen Götterbäume? Na, geht mal suchen, wo sie überall stehen rund um die Schule, und in der Steinstraße. Und überall in der Stadt. Die großen – schaut sie euch an, wie schön sie eigentlich sind. Da sind die verzweigten Blätter, die kommen spät, erst im Mai. Dann im Juni und Juli die großen Blütenrispen. Im Herbst, an den weiblichen Bäumen, die üppigen Samenbüschel, die verfärben sich dann für kurze Zeit in ein leuchtendes Rot. Und im Winter, ohne Laub, sieht man klar den Wuchs des Götterbaums, wie er seinen Stamm oft unten schon aufteilt, dann starke Äste herausschwingen lässt und sich nach außen hin feiner verzweigt.
Wenn man in China, in seiner Heimat, den Namen des Götterbaums schreibt, dann sieht das so aus: 臭椿 Das spricht man so ähnlich wie „Tschoh-tschunn“. Diese vielen Striche sind keine Buchstaben. Das sind die Reste von Bildern. Von den Bildern für „Gras“, „Spross“, „Sonne“, „Baum“, „Nase“ und „Hund“. Alles zusammen bedeutet: „Stinkender Frühlingsbaum“.
Man muss nämlich aufpassen in China, dass man im Frühling nicht aus Versehen die Blätter des Götterbaums erntet, also des „stinkenden“ Frühlingsbaums. Sondern nur die des „duftenden“ Frühlingsbaums. Der sieht sehr ähnlich aus, und seine Blätter sind im Frühling ein beliebtes Gemüse, eine Feinschmeckerfreude.
Der Götterbaum zeigt uns, wie es ist, wenn jemand stark ist. Der kann mit seiner Stärke helfen und etwas Gutes tun für alle. Und er kann seine Kraft auch gegen die anderen wenden. Das machen wir Menschen ja immer wieder. Unter Geschwistern. Innerhalb einer Schulklasse. Im Straßenverkehr. Innerhalb einer Stadt, eines Landes, und auf der ganzen Erde. Zwischen Menschen, die viel oder wenig Macht haben, viel oder wenig Geld. Oder sogar Waffen. Der Götterbaum kann uns aufwecken für das, was geschützt werden muss.
Der Götterbaum
Ich stehe an meinem Ort, kraftvoll wachse ich in die Höhe
und greife Raum. Ich zeige meine Kraft, schnell gewinne ich Größe und Gestalt.
Wer mich sieht,
kann sich freuen an meinem Wuchs,
an meiner Schönheit,
an meiner Freude am Sein.
Ich verwandle das Bild
einer Stadt, einer Landschaft,
bringe hinein
einen neuen Zug,
einen starken Klang.
Ich finde meinen Platz,
ich folge deinem Bau.
Ich fühle deine Nähe,
ich warte auf dich.
Zeige mir deine Kraft!