Jacob Teitel und die Weltvereinigung der "Kinder-Freunde"
Von Elena Solomiski
Das Schicksal von Flüchtlingskindern ist nicht erst seit wenigen Jahren Thema unserer Gesellschaft. In Berlin, wohin in der 20er Jahren des XX. Jahrhunderts Tausende jüdischer Flüchtlinge nach der Revolutionen in Russland, nach Pogromen in der Ukraine, in Polen und Galizien, kamen, war dieses Problem schon damals hochaktuell. Um Armut und Hungernot zu überwinden und gleichzeitig den ärmsten Familien Kenntnisse über Erziehung, Bildung oder auch Hygiene zu vermitteln, wurden Hilfskomitees und Vereine ins Leben gerufen. Die Berliner selbst schauten herab auf die aus Osteuropa zugewanderten Flüchtlinge. Die meisten Flüchtlinge waren allein auf ihre eigenen Kräfte angewiesen – es entstanden zahlreiche Selbsthilfeorganisationen.
Im Juni 1923 gründete Jacob Teitel (1850-1939), der damals bereits seit drei Jahren als politischer Flüchtling in Berlin lebte, eine Kindergruppe, um mittellosen Kindern zu helfen. Ihr gehörten zunächst 10 Kinder im Alter von 8 bis 15 Jahren an. In seiner Kindheit im Stetl Chernyi Ostrow (heute Ukraine) litt Teitel selbst an Armut und erlebte, dass die Kinder aus den verschiedenen sozialen Schichten wenig voneinander wissen. In Russland war er später als einziger jüdischer Richter tätig. Sein Berufsleben führte ihn aus Moskau über Zentral-Russland bis nach Kiew. Gleichzeitig setzte er sich stark für die Belange der Juden in Russland ein, deren Wohn- und Bildungsrechte unter den Zaren stark eingeschränkt wurden. Sein soziales Hilfswerk begann Teitel zunächst in Russland, wo er in Samara im Jahre 1903 den ersten interreligiösen Kindergarten Russlands gründete; danach baute er ein Bildungsnetzwerk für Kinder und Jugendliche in Saratow auf. Er war auch Mitbegründer des Komitees für jüdische Studierende aus Russland an den europäischen Universitäten. In Berlin war er insbesondere als Vorsitzender des Verbandes russischer Juden (1920-1935) tätig. Eine langjährige Freundschaft verband Teitel mit den führenden Vertretern des deutschen Judentums, wie James Simon, Rabbiner Leo Baeck, Paul Nathan und mit den zahlreichen Gelehrten, wie Simon Dubnow, Albert Einstein u.a. Wie viele seine Zeitgenossen war auch er der Meinung, dass soziale Verantwortung und Solidarität die wichtigsten moralischen Werte der Gesellschaft sind, die daher den Jugendlichen vermittelt werden müssen. Von London bis Sankt-Petersburg kannte er zahlreiche jüdische Philanthropen und stand mit ihnen über deren Ideen und Projekte im Austausch.
73jährig führte Teitel seine Berliner Kindergruppe, der zunächst überwiegend Kinder aus gutsituierten Familien angehörten, in den Norden der Stadt, um ihnen zu zeigen, im welcher Not die Armen dort lebten. Die Kinder aus der „Großvater-Teitel-Enkelkinder-Gruppe“ (so wurde sie in der Umgangssprache genannt!) sollten dabei andere Kinder kennenlernen, um danach mögliche gemeinsame Aktivitäten zu planen. Die Kinder waren so begeistert, dass sie beschlossen eine Vereinigung zu gründen. Am 23. Dezember 1923 war es soweit: Im Hause des Berliner Unternehmers und Philanthropen Hermann Abraham in der Gormannstrasse 3 fand die erste Versammlung der Weltvereinigung „Kinder-Freunde“ statt. Dabei wurde von den Kindern beschlossen, die Kindertreffen jeden Sonntag an diesem Ort abzuhalten.
Erwähnt sei, dass der Name der Vereinigung „Kinder-Freunde“ spätestens seit dem Jahr 1908 in Europa gebraucht wurde und bekannt war. Im österreichischen Graz wurde in diesem Jahr ein Arbeiterverein „Kinderfreunde“ durch den Sozialerzieher und Journalisten Anton Afritsch gegründet. Als wesentlicher Impuls des Vereins diente das Erziehungskonzept von Pestalozzi und Fröbel, wo Kreativität und Selbstverwaltung der Kinder in spielerischer Form für die Erziehung der Persönlichkeit eine besondere Rolle spielen. Teitel war der Meinung, das es besonders wichtig ist, dass sich Kinder aus verschiedenen Ländern und Gesellschaftsschichten, aber auch verschiedener Religionen anfreunden. Deswegen änderte er den Namen so, dass der Bindestrich zwischen Kinder und Freunde kam.
Teitels Idee fand ein lebhaftes Echo bei Kindern und ihren Eltern. Und so versammelte sich die Kindergesellschaft in den Jahre 1926–1927 sonntags um 15 Uhr mit bis zu 150 Kindern in der Gormannstrasse 3. Bereits drei Jahre später zählte Vereinigung 324 Mitglieder aus 34 Berliner Schulen. Überwiegend waren es Kinder im Alter 8 bis 10 Jahren, aber auch Jugendliche. 40% der Mitglieder waren Kinder polnischer, 20% russischer Zuwanderer und ca. 10% Kinder aus deutschen und österreichischen Familien. Die Kinder wurden medizinisch durch den aus der Ukraine stammenden Dr. Fischl Schneerson (1887–1958) und einem internationalen pädagogischen Team betreut. Schneersohn hatte mehrjährige Erfahrung mit den traumatisierten Kindern: Während seine Arbeit in Kiew (1920-1922) betreute er Pogromopfer und wurde durch sein Publikationen auch in Europa bekannt. Schneerson war mit der reformpädagogischen Bewegung in Deutschland vernetzt und veröffentlichte 1924 in Berlin sein Werk „Neue Bahnen der sozialen Erziehung“, in dem er ein modernes Erziehungskonzept vor dem Hintergrund der Gefahren von Kriegen für die Kindesgesundheit vorstellte und wahrscheinlich die Traumapädagogik begründete.
Die Weltvereinigung „Kinder-Freunde“ war eine Form der freiwilligen Kinder-Republik. Jedes Mitglied bekam einen Pass, mit welchem das Kind im Theater, im Konzert oder an gemeinsamen Spielen mitwirken oder in der Bibliothek Bücher ausleihen durfte. Auf der Bühnen trugen Kinder einmal Verse von Heine, einmal Volkslieder, oder auch Witze der Erwachsenen vor. Die Kinderverwaltung bestand aus 20 Kindern. Jacob Teitel als Vorsitzender der Vereinigung war jeden Sonntag dabei. Er sprach mit den Kindern, verteilte auch Geschenke und sorgte für Patenschaften für besonders Notleidende und deren Familien. Zu diesem Zweck initiierte Teitel namentliche und anaonyme Kinder-Patenschaft. Vor allem in der Krisenzeit, als auch viele reiche Familien verarmten, übergab er Geldbeträge für einige Familien so diskret, dass es nach außen unbemerkt blieb und die Würde der Flüchtlinge nicht verletzt wurde. Über die Vereinigung verteilte Teitel jährlich 500 Lebensmittel-Pakete und half mind. 70 Flüchtlingsfamilien. In der Winterzeit war die große Kantine in der Gormannstrasse 3 der Treffpunkt der Kinder-Vereinigung. In der Sommerzeit wurden auch Ausflüge nach Wannsee, zum Zoo und in die Berliner Umgebung organisiert. 3-4 Mal im Jahr veranstaltete die Vereinigung große Feste mit Kinder-Paraden und Konzerten. Als weitere Tradition etablierte sich eine Kinderversammlung, welche pünktlich um 17 Uhr stattfand (in der Winterzeit). Dort hatte jeder das Recht zu sprechen und die Verwaltung zu kritisieren. Zur Versammlungseröffnung sangen die Kinder die Vereinshymne, deren Verfasserin keine andere als die später berühmte Dichterin Masha Kaléko war. Es handelt dabei um eines ihrer ersten Gedichte.
Später, bis 1928, bekam die Weltvereinigung „Kinder-Freunde“ ihre Post-Anschrift in der Düsseldorfer Strasse 22, und danach bis 1933 in der Konstanzer Strasse 53. Frida Ogler, ein Mitglied der Vereinigung, bedankte sich bei Jacob Teitel mit folgenden Worten: „Wir erleben hier grenzenlose Freiheit … und fühlen uns, wie Bruder und Schwester.“
Das Hilfswerk der Vereinigung „Kinder-Freunde“ wirkte ununterbrochen bis zum Jahre 1933. Jacob Teitel, vor dem Antisemitismus aus Russland geflohen, wanderte, als Hitler an die Macht kam, nach Frankreich aus, wo er im Jahre 1939 starb. Hilfskomitees der russischen Juden in Paris, Nizza und später in New York trugen seinen Namen bis in die frühen 1960er Jahre. Sie halfen das Leben Tausender von Flüchtlingen aus Europa zu retten. Kurz vor seinem Tod, im Jahre 1938, erhob Teitel nochmals seine Stimme für die Rettung der Juden bei der historischen Konferenz in Evian: Es war eine letzte Hoffnung auf die Rettung der europäischen Juden. Dr. Fischl Schneerson verließ Deutschland im Jahre 1933 und ging nach Israel. Er gründete dort einen Kulturverein und organisierte Hilfe für Bedürftige.
Ich erlaube mir zu hoffen, dass eine neue Generation, die heute in der Gormannstrasse 3 gemeinsam Unterricht, Lehrerstudium und Freizeit gestaltet, in einem künftigen, neuen Schulgebäude einen Ehrenplatz für Jacob Teitel findet, den Maxim Gorkij wegen seiner Lebensart und Menschenliebe den „fröhlichen Gerechten“ nannte. In Israel und in Deutschland gibt es Straßen und Einrichtungen, welche die Namen von Teitels Freunden und Schülern tragen. An Jacob Teitel selbst erinnert heute nichts. Es wäre für uns alle eine Aufgabe, dass die Erinnerung an sein Werk der Hilfe an einem Ort weiter lebt und von einer neuen Generation getragen wird.